@Runeflinger:
SEITE 22 · FREITAG, 1. JULI 2016 · NR. 151 FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
S eit Monaten beherrscht „Dieselgate“
die Schlagzeilen. Eine fundierte Erörterung
des Sachverhalts hat jedoch kaum
stattgefunden. Die Konsequenzen sind irrational
bis verwunderlich, wenn Kinder
von Ingenieuren belästigt werden oder
Mütter ihre Kinder von Autos fernhalten.
Eine reflektierte Berichterstattung fehlte
weitgehend – und führte zu bedauernswerten
Fehlinformationen.
Unbestritten ist, dass Volkswagen in
den Vereinigten Staaten vor allem im Modell
Jetta durch den Einbau einer Zykluserkennung
im realen Fahrbetrieb rund
400 bis 1000 mg Stickoxide je Kilometer
emittiert. Ein solcher Verstoß gegen Regularien
ist unstrittig nicht erlaubt und bedarf
einer kompletten Aufklärung, die
sich in den vergangenen Monaten zu einem
Horror für Volkswagen entwickelte.
In diesem Kontext aber hat sich eine
Dynamik entwickelt, die in keinem Verhältnis
zu dem Vorfall steht. Kritik ist absolut
angemessen, jedoch werden in der
Berichterstattung amerikanische und europäische
Themen beliebig vermischt, oftmals
willkürliche Aussagen über das
Emissionsverhalten und die Immissionsbelastung
gestreut und eine Verunsicherung
der Bevölkerung erwirkt. Die immer
gleichen, sogenannten Experten werden
zitiert. Ferdinand Dudenhöffer vom Car-
Institut in Essen behauptet wiederholt,
der Diesel sei ein „Schmuddelantrieb in
Zeiten zunehmender Luftbelastung“.
Worum aber geht es in Wirklichkeit?
In den vergangenen zwanzig Jahren forderte
eine kontinuierlich strenger werdende
Emissionsgesetzgebung die gesamte
Dieselbranche zur Höchstleistung. Hierbei
muss zwischen dem Verbrennungsprodukt
Kohlendioxid (CO2) und unerwünschten
Emissionen wie Stickoxiden
(NOx), Partikeln, Kohlenmonoxid CO
oder Kohlenwasserstoff HC unterschieden
werden. Die Kohlendioxidemission
ist an den Kraftstoffverbrauch gekoppelt.
Das Erreichte ist beim Diesel eindrücklich:
Die CO2-Emission ist besser als die
eines Elektrofahrzeuges auf Basis der
deutschen Stromerzeugung. Eine weitere
Reduzierung des Dieselverbrauches ist jedoch
notwendig und wird realisiert werden.
Die Luftqualität in den Städten wird
aber nicht durch die CO2-Emission beeinflusst.
CO oder HC sind nur unmittelbar
nach dem Kaltstart überhaupt relevant,
ansonsten bedeutungslos. Die Umweltmessstationen
zeichnen diese Komponente
typischerweise gar nicht mehr auf. Der
HC- und CO-Beitrag des Dieselmotors ist
vernachlässigbar.
Größte Aufmerksamkeit hat die Partikelemission.
Feinstaubalarm wurde etwa
in Stuttgart schon mehrmals ausgerufen.
In Stuttgart und Ulm ist der Beitrag der
verbrennungsmotorischen Partikeln zur
Gesamtbelastung jedoch nur rund 7 Prozent.
Und dieser Wert resultiert im Wesentlichen
aus zahlreichen Altfahrzeugen
der Gesamtfahrzeugflotte. Mit der Einführung
des Partikelfilters ist der Partikelbeitrag
des Dieselmotors vernachlässigbar.
Messungen zeigen eine geringere Partikelkonzentration
des Abgases als der
Stadtluft. Vor diesem Hintergrund ist es
unerträglich, wenn beispielsweise Nachrichtenmoderatoren
auf die Gefahr von
Dieselfahrzeugen bei Feinstaubbelastung
hinweisen. Sogar die deutsche Umwelthilfe
bestätigt die Lösung dieses Problems,
ebenso wie das grüne Verkehrsministerium
in Stuttgart.
Es verbleibt Stickstoffdioxid (NO2). Unstrittig
ist, dass heute rund 70 Prozent
durch Verbrennungsmotoren und hier vor
allem durch Dieselmotoren beigesteuert
wird. In den vergangene 15 Jahren ist der
NOx-Grenzwert von 500 auf 80mg/km gesunken.
In der Realität ist jedoch eine
mittlere NOx-Abnahme von 1000 auf
500mg pro Kilometer zu beobachten.
Dies ist schon vor Jahren publiziert worden
und entgegen der Veröffentlichungen
der vergangenen Wochen lange bekannt.
Die Gründe für die erhöhten Realwerte
sind vielfältig und auch in Teilen absolut
kritikwürdig: eine Emissionsgesetzgebung
mit scheunentorgroßen Grauzonen,
eine absolute Fokussierung der Dieselapplikation
im Fahrbetrieb hinsichtlich
Verbrauch und Fahrfreude, eine unbefriedigende
NormEuro 5 oder der harteWettbewerb,
durch den die NOx-Reduzierung
wenig Bedeutung erhielt.
Vergessen sollte man nicht, dass heutigen
Euro-5-Fahrzeuge vor rund 10 Jahren
und die meisten kritisierten Euro-6-Fahrzeuge
schon vor rund 5 Jahren konzipiert
waren. Die lange Entwicklungszeit ist
auch die größte Herausforderung. Die
portable Emissionsmessung „Pems“ gab
es damals übrigens noch gar nicht. Nun
forciert der Gesetzgeber absolut nachvollziehbar
und mit Hochdruck die sinnvolle
schnelle Einführung der RDE-Gesetzgebung,
startend im Jahr 2017, bei der unter
realistischen Randbedingungen getestet
wird.
Nur wo ist nun der große Skandal bei
den Stickoxiden? 2006 gab es in Stuttgart
853 Überschreitungsstunden (NO2 >200
g/m3); im Jahr 2014 noch 36. Der Jahresmittelwert
sank um rund 30 Prozent. Die
Luft wird kontinuierlich besser – wegen
strengerer Emissionsgrenzwerte. Richtig
ist, dass an hochfrequentierten Straßen
(S-Neckartor) noch immer ein etwa doppelt
so hoher Jahresmittelwert (80 g/m3
anstatt Grenzwert 40 g/m3) gemessen
wird. Dieser Wert muss ebenfalls schnell
auf 40 g/m3 reduziert werden. Die Aussage,
dass jedoch Zehntausende Menschen
an diesen Straßen einer großen Gefahr
ausgesetzt seien, ist verwunderlich.
Schon zwanzig Meter entfernt von der
Straße ist die Stickoxidbelastung deutlich
reduziert. Auf der gegenüberliegenden
Straßenseite von Stuttgart Neckartor ist
die NO2-Belastung halbiert. Die mit der
NO2-Immission verknüpfte Ozonbelastung
ist derart gesunken, dass in den Städten
Ozon-Werte wie im Umland vorliegen.
Schon vor rund 5 Jahren und lange vor
dem Dieselskandal begannen BMW, VW,
Audi oder Mercedes-Benz ihre Entwicklungen
für die nächste Generation. Die
komplexe Wechselwirkung zwischen Motor-
und Fahrzeugentwicklung führt zu
diesen Zeitleisten. Die neuesten Fahrzeuge
dieser Hersteller emittieren nun nur
noch 10 bis 60 mg/km, auch bei einer Außentemperatur
um den Gefrierpunkt. Ein
neuer Euro-6-Stadtbus mit 12 Metern
Länge und mehr als 12 Tonnen Gewicht
emittiert rund 300mg/km. Das Stickoxidthema
ist somit eindrücklich gelöst.
Durch den großen Hebel der Neufahrzeugemissionen
(10–60mg) zu bisherigen
Euro-6-Fahrzeugen (200–600mg/km) können
wir in vier Jahren auch am Neckartor
in Stuttgart den Grenzwert 40 g/m3 erreichen.
Unmittelbar in den Nebenstraßen
werden wir sogar hervorragende Werte
unter 30 g/m3 beobachten können, und
zwei Drittel werden nicht vom Verbrennungsmotor
verursacht sein. Hilfreich ist
eine schnelle Substitution von alten Euro
4 und Euro 5 Diesel-Fahrzeugen. Es gibt
also kein Technologieproblem, nur ein
Zeitproblem, bis die neuen Fahrzeuge in
der Flotte dominieren. Moderne Dieselfahrzeuge
emittieren damit übrigens rund
halb so viele Stickoxide wie Elektrofahrzeuge
auf der Basis der deutschen Stromherstellung.
In Amerika wiederum ist die Empörung
über Volkswagen groß. Nur warum?
Aus Umweltschutzgründen? Dies hält keiner
seriösen Überprüfung stand. Natürlich
müssen Gesetze eingehalten werden.
Diese Kritik trifft Volkswagen zu Recht
hart. Fassungslos und geschockt ist die gesamte
deutsche Branche, der man einen
Bärendienst erwiesen hat. Die amerikanischen
Behörden müssen sich jedoch sehr
wohl den Vorwurf gefallen lassen, mit
zweierlei Maß zu messen. Als bei der
Emissionsstufe „EPA ’98“ insgesamt sieben
vor allem amerikanische Nutzfahrzeughersteller
einen Abschaltmechanismus
verbauten, ergaben sich Stickoxidmehremissionen
von 1,3 Millionen Tonnen
pro Jahr. Zum Vergleich liegt der
Schaden durch Volkswagen bei deutlich
weniger als 8000 Tonnen im Jahr, also weniger
als ein Prozent. Die sieben Hersteller
mussten zusammen Kompensationsleistungen
und Strafzahlungen von rund 1
Milliarde Dollar erbringen. Volkswagen
zahlt nun bis zu knapp 15 Milliarden Dollar.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen
dem amerikanischen und europäischen
Zulassungssystem ist übrigens entscheidend.
In Europa ist zunächst das,
was in einer gesetzlichen Grauzone nicht
definiert ist, nicht illegal. In den Amerika
ist die Zulassung das Ergebnis eines bilateralen
Gespräches der beantragenden Firma
mit einem Ingenieur der Umweltbehörde
EPA. Interessant ist auch die Tatsache,
dass Hersteller in den Vereinigten
Staaten im Fadenkreuz für etwas sind,
was andere Hersteller in ähnlicher Art
verbauen. Mit dem einzigen Unterschied,
dass die Technik bei diesen Herstellern
abgenommen ist. Der Umweltschutzgedanken
darf getrost bezweifelt werden. Es
geht in Amerika um wirtschaftliche Interessen
und um nichts anderes. Milliardenzahlungen
sind mit einer logischen Argumentation
nicht zu rechtfertigen.
Insgesamt ist der eigentliche Skandal
eindeutig nicht der Umweltbeitrag. Vielmehr
ist es die Intensität der Empörung,
die mit einer beunruhigenden Unwissenheit
skaliert. Und maßgeblich Verantwortung
tragen die öffentlich rechtlichen Sender,
die mit Steuergeldern finanziert, eine
oftmals einseitige und skandalisierende
Berichterstattung einer vernünftigen Information
vorziehen. In Deutschland haben
wir leider eine Freude daran, uns zu
zerfleischen. Hier können wir noch viel
von unseren europäischen Nachbarn lernen.
Etwas mehr Gelassenheit wie in Italien
und Frankreich täte uns gut. Der Dieselmotor
ist ein hervorragender Antrieb
für eine emissionsarme Zukunft.
Thomas Koch ist Institutsleiter am
Karlsruher Institut für Technologie (KIT),
Institut für Kolbenmaschinen.
S TA N D P U N K T
Der eigentliche Dieselskandal
Von Thomas Koch
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